Das Schleswiger Hafenviertel im Hochmittelalter. Entstehung – Entwicklung – Topographie
Im europäischen Mittelalter kam dem Hafen die Bedeutung eines Knotenpunktes zu, der nicht nur als Warenumschlag diente, sondern auch als Ort des Austausches für Ideen, Technologien und Weltbilder fungierte (transit points/ contact zones)1 Dabei ist die Spanne von dem, was unter einem Hafen verstanden wird, weit gefasst, und reicht von „Naturhäfen“ im Sinne geschützter Lagen bis hin zu komplexen Infrastrukturen in rechtlich definierten Gebieten – ein Hafen ist noch lange nicht gleich Hafen und die archäologische Überlieferung bedarf hier systematischer Auswertung und kritischer Kontextualisierung.
Das gilt umso mehr für Schleswig, dessen Gründung und Blütezeit nicht nur im Epochenübergang von Wikingerzeit (bis 1066) und Hochmittelalter liegt und dadurch nach einer Betrachtung jenseits von festgefahrenen Forschungsgrenzen verlangt, sondern dessen herausgehobene Rolle für Interaktionen im nordeuropäischen Raum früh umfangreich belegt ist. Bereits 1086 wird die Stadt als portus und locus celeberrimus, als Hafen und stark frequentierter Ort, beschrieben und Mitte des 12. Jahrhunderts mit dem Attribut „durch ihr Warensortiment glanzvoll dastehend“ charakterisiert. Darüber hinaus finden in Schleswig, das auch Bischofssitz und Königspfalz beherbergt, ab Mitte des 11. Jahrhunderts zahlreiche Treffen geistlicher und weltlicher Würdenträger statt2. Diese Ereignisse und ihre ökonomische Prosperität lassen sich zunächst vor dem Hintergrund der topographischen Gunstlage verstehen. Gegründet auf einer Halbinsel am inneren Ende der Schlei, befindet sich die Stadt nicht nur an der Grenze Dänemarks zum HRR, sondern auch an der engsten Stelle der Jütischen Halbinsel – nur 20 km Landweg trennt Schleswig von ihrem Nordseehafen Hollingstedt. Damit bestand eine exzeptionelle Ausgangslage für den wassergestützten Warenverkehr zwischen den Wirtschaftsräumen Nord- und Ostsee sowie Kontinent und Skandinavien.
Im Gegensatz zum Vorgänger Haithabu ist die archäologische Erforschung der Stadt vergleichsweise jung. Erst in den 1970er und 80er Jahren wurden im Altstadtgebiet zahlreiche Grabungen durchgeführt, bei denen man im ehemaligen Uferbereich auf tausende hervorragend erhaltene Holzbefunde stieß. Auch wenn die Bedeutung dieser sogenannten Hafengrabungen früh erkannt wurde, konnte ihre systematische Auswertung erst jüngst realisiert werden (Abb. 1)3.
Zu den ersten archäologisch erfassten Baumaßnahmen im Hafenviertel zählen in den 1070er Jahren am ehemaligen Ufer angelegte Parzellen sowie ein systematisches Wegenetz. Insgesamt konnten sechs Parzellen unterschiedlicher Größe identifiziert werden, von denen fünf parallel zueinander, im rechten Winkel zur Schlei, arrangiert und mit Flechtzäunen begrenzt waren. Vor den Parzellen verlief ein öffentlicher Weg mit erhöhter Lauffläche, der den Zugang zu den Parzellen auch bei hohen Wasserständen ermöglichte, während eine weitere, im rechten Winkel dazu angelegte Konstruktion, das Ufer mit der Innenstadt verband. Der Uferbereich der Altstadt wurde dadurch systematisch entwickelt.
Damit ist der Grundstein für eine knapp 25 Jahre andauernde Entwicklung gelegt, die in Umfang, Dynamik und Geschwindigkeit unter den vergleichbaren Plätzen Nordeuropas ihresgleichen sucht. Ab 1080 kommt es zunächst zu einer individuellen Verstärkung, Erhöhung und Bebauung der Uferparzellen. Doch bereits 1087 genügt dieser Platz nicht mehr und man beginnt, das Flachwasser vor der Altstadt systematisch mit Dammkonstruktionen zu erschließen. Diese Dämme bestehen aus u-förmig angeordneten, hölzernen Spundwänden, die lagig mit Reisig, Mist und Erde verfüllt sind und die Ordnung der Parzellen auch im Wasser weiterführen. Mehrfach auf über 50 m verlängert, okkupieren sie zu Beginn des 12. Jahrhunderts das gesamte Flachwasser vor der Altstadt auf einer Fläche von über einem Hektar. Nach der Fertigstellung werden diese Plattformen bis auf eine Ausnahme individuell mit Gebäuden, Pferchen und Werkplätzen bebaut (Abb. 2).
Abb. 2. Schleswig. Grabung Plessenstraße 83/3. Modell der Topographie des Hafenviertels um 1100. Orange und Rot kennzeichnen die privaten Areale der Parzellen bzw. Dämme, während die grünen Flächen die öffentlichen Bereiche, Wege und Marktplatz, markieren (Graphik: Felix Rösch).
Das Verständnis dieser speziellen Topographie ist komplex und eröffnet sich erst vor dem Hintergrund lokaler Veränderungen im Zusammenspiel mit den einschneidenden Entwicklungen des nordischen Mittelalters. So wurde Schleswig erst im Verlauf des 11. Jahrhunderts als Nachfolger von Haithabu auf der Altstadthalbinsel gegründet, die mit ca. 12 ha nur wenig Platz bot. Bereits in den 1080ern ist neue Standort vollständig erschlossen, wodurch die Baumaßnahmen in die Schlei ausgreifen müssen. Neben Prozessen, die sich mit Schlagworten wie Christianisierung, beginnende Territorialherrschaft und Urbanisierung umreißen lassen, war es vor allem die Professionalisierung des Fernhandels, die dem Hafenviertel ihren Stempel aufdrückte. Ist der Handel im Frühmittelalter vor allem eine Nebenerwerbstätigkeit, wird das Spektrum der Akteure ab dem 10. Jahrhundert zunehmend breiter und ihr Organisationsgrad höher. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung steht schließlich die Herausbildung einer unabhängigen, professionell agierenden Kaufmannschaft. Damit einher gingen technische Innovationen, die sich in spezialisierten Transportschiffen, zunächst Knorr und später Kogge4, und in veränderten Hafen- und Markttopographien äußerten. So wandelten sich die die saisonalen Ufermärkte zunächst zu Hafenmärkten, bei denen der Umschlag auf Landebrücken stattfand5, bevor sich das Fernhandelsgeschehen gänzlich in die Privathäuser der Kaufleute verlagerte und die Häfen weitestgehend auf die Abfertigung der Schiffe reduziert wurden (Abb. 3)6.
In der skizzierten Topographie des Schleswiger Hafenviertels wird die Weiterentwicklung und Optimierung des Handelsgeschehens deutlich.
Wie beim Vorgänger Haithabu bestand im Hafen noch ein Marktplatz am Wasser, der sich als unbebauter Damm doppelter Fläche im Befund äußerte, wo Öffentlichkeit Kontrolle und Sicherheit der Transaktionen garantierte und Raum für spontane Interaktion bestand. Bei den individuell bebauten Dämmen handelt es sich hingegen um Privatgrundstücke in den Fernhandel involvierter Akteure, die ihnen eine Reihe von Standortvorteilen brachten. So boten die Grundstücke Platz für die Einrichtungen eines Haushalts, fungierten als Hafenanlagen für Transportschiffe, stellten eine verkehrsgünstige angebundene Schnittstelle zwischen Land und Wasser dar und befanden sich nicht zuletzt in einer höchst attraktiven pole position, um Kontakte zu potenziellen Geschäftspartnern herzustellen (Abb. 4).
Damit beleuchtet die Untersuchung des Hafenviertels nicht nur Topographie, Dynamik und Praktiken einer bedeutenden Hafenstadt im Übergang von Wikingerzeit zur Hanse, sondern ist auch dazu angehalten, grundlegenden Prozesse des nordeuropäischen Hochmittelalters besser zu verstehen.
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Empfohlene Zitierweise/Suggested Citation: Felix Rösch, Das Schleswiger Hafenviertel im Hochmittelalter. Entstehung – Entwicklung – Topographie, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte 1 (2018), S. 174–178, https://mittelalter.hypotheses.org/12889.
1Vgl. Christer Westerdahl, The maritime cultural landscape, in: International Journal of Nautical Archaeology 21 (1992), S. 5–14. Kristin Ilves, Seaward Landward. Investigations on the archaeological source value of the landing site category in the Baltic Sea region (Södertörn Doctoral Dissertations 66) Uppsala 2012.
2Christian Radtke, Schleswig ca. 1000–1250. Systemtheoretische Skizze eines Urbanisierungsprofils, in: Zweiundvierzig. Festschrift für Michael Gebühr zum 65. Geburtstag, hrsg. von Stefan Burmeister, Heidrun Derks und Jasper von Richthofen (Internationale Archäologie – Studia honoraria 25), Rahden, Westfalen 2007, S. 317–338.
3Die Auswertungen wurden durch das von der VW-Stiftung geförderten Projekt (2012–2015) „Zwischen Wikingern und Hanse. Kontinuität und Wandel des zentralen Umschlagplatzes Haithabu/Schleswig im 11. Jahrhundert.“ ermöglicht.
4Anton Englert, Large Cargo Ships in Danish Water 1000-1250. Evidence of specialised merchant seafaring prior to the Hanseatic Period (Ships and Boats of the North Volume 7) Roskilde 2015.
5Sven Kalmring, Der Hafen von Haithabu (Die Ausgrabungen in Haithabu 14) Neumünster 2010.
6Detlef Ellmers, Die Verlagerung des Fernhandels vom öffentlichen Ufermarkt in die privaten Häuser der Kaufleute, in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 20 (1990), S. 101–108.
Felix Rösch
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Forschungsschwerpunkte - Mittelalterliche Siedlungsprozesse - Urbanisierung Nordeuropas - Montanarchäologie - Maritime Archäologie - Unterwasserarchäologie
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